Paul Good

 

RÖMISCHE FOTOGRAFIEN 
Gudrun Kemsas neue Kinder der Clymene

 

1. Ovid hat den ersten Traktat über Fotografie geschrieben. Er handelt vom Verlangen des Menschen, das Licht selber lenken zu können. Von der Grenze, die zwischen Sterblichen und Unsterblichen gezogen ist. Von der Hybris dessen, der sie zu überschreiten versucht. Und von seinem Scheitern.

 

Dieser Traktat steht am Anfang des 2. Buches der Metamorphosen. Phaeton, Sohn der Clymene, tritt vor den Sonnengott und bittet ihn um einen Beweis seiner Vaterschaft. Gerührt nimmt Phoebus seine glänzende Krone vom Haupt, heißt Phaeton näher treten, umarmt seinen Sohn und verspricht, ihm jedes Pfand zum Beweis zu gewähren. "Das Recht, einen Tag die geflügelten Rosse zu lenken", das erbittet sich Phaeton. Schon reut den Sonnengott der unbedachtsame Eid, weil sein Sohn Unmögliches fordert. "Dies eine, mein Sohn, sich würd' es dir weigern." Doch der Verblendete läßt nicht nach, er will es wissen. Unter seiner schlaffen Führung aber brennen die göttlichen Rosse mit dem Sonnenwagen durch. Jupiter schleudert seinen Blitz und trifft den Verwegenen tödlich.

 

2. Diese mythische Geschichte ist eine Parabel auf die Kunst der Fotografie. Sie nennt als wichtigste Momente: 1. Die Fotografie stammt vom Licht ab. 2. Sie fordert das Licht zum Beweis heraus. 3. Der Beweis kann nur in der eigenen Lenkung des Lichts bestehen. 4. Die Ausführung ist stets ein verwegenes Unternehmen. 5. Die Fotografie scheitert als Kunst, solange sie nur die Wünsche des Operators erfüllt. 6. Der Ausdruck "Lenkung des Lichts" ist als "genitivus subiectivus" zu verstehen: das Licht ist das Subjekt der Lenkung, es lenkt den Fotografen.

 

3. Wenn ich den Mythos als Parabel für die Fotografie lese, muß ich das mythische Schema, nicht aber die Erkenntnis des Mythos pervertieren. Das mythische Erzählschema besteht in der Einrichtung einer absoluten Grenze zwischen Sterblichen und Unsterblichen. Es setzt den Sterblichen ein Maß, dessen Überschreitung als Hybris gilt und bestraft wird. Das Licht, weil ein göttliches, steht nicht in der Macht des Menschen. Das mythische Schema vollzieht die fatale Abspaltung einer Transzendenz von der Immanenz. Dies im Zuge einer Aufklärung innerhalb der Mythentradition, welche die Götter göttlicher setzt als zuvor. Die griechische Philosophie übernimmt diese dualistische Konzeption und erhebt sie zum metaphysischen Denkmuster schlechthin.

 

Es pervertieren, heißt nicht, die durch diese Transzendenz ausgedrückte Erkenntnis preisgeben. Vielmehr muß das Transzendente anders gedacht werden. Ich pervertiere das mythische Schema in dem Maße, als ich die Transzendenz auf die Immanenzebene ziehe. Das Göttliche (der Sinn, die Kunst) ist dann kein jenseitiges, sondern eines, das überall auf der Oberfläche zirkuliert. Was sich nicht einfangen, nicht definieren läßt, wie bei Lewis Carrols Jagd nach dem Schnark. Was uns am Tage erschreckt und uns auch noch in den Träumen nicht zur Ruhe kommen läßt. Alles auf einer Ebene denken und das Unendliche dabei nicht preisgeben, das ist die neue, vom Mythos emanzipierte, philosophische Alternative, das neue Denken, welches die Erkenntnis des Mythos in Kunst transformiert.

 

4. Roland Barthes hat im Buch Die helle Kammer die Hartnäckigkeit des Referenten bei der Fotografie unterstrichen, daß immer etwas oder jemand drauf ist, daß man also stets den Referenten sieht und nicht die Fotografie.

 

Die Fotoarbeiten von Gudrun Kemsa scheinen mir den hartnäckigen Referenten verschwinden zu machen, um das sehen zu lassen, was die Fotografie ist. Sie betreiben die Auflösung des Referenten. Diese Fotografin fotografiert alte und neue Architektur. Säulen und Kuppeln, Fenster und Türen, einen unterirdischen Gang, eine Glasfassade. Das bietet sich in Rom an. Aber die Künstlerin interessiert sich bei den Arbeiten nicht für antike und moderne Bauten. Diese sind römische Reminiszenzen, nicht aber das Thema ihrer Fotografien. Der unterirdische Gang der Sibylle von Cumae ist keine Huldigung an diese rätselhafte Frau. Es geht bei allen Arbeiten allein darum, was das Licht macht. Es wirft seltsam abstrakte Formen seitlich in den dunklen Gang. Die Form ist selber angefressen, nur an einer Seite scharf, ein Fragment von Form also, nach hinten perspektivisch und lichtschwächer wiederholt. Die Referenten "dunkler Gang" und "seitlicher Lichtwurf" (Lichtform) sind zwar noch als Gegenstandsbezug erkenntlich. Aber sie werden als solche gerade ihrer Auflösung zugeführt.

 

Ist damit aber nicht nur ein halbherziges Verschwinden des Referenten erreicht? Wenn die Kamera direkt in die Sonne guckte, wäre der Referent ganz weg. Vielleicht wäre das Gudrun Kemsas ideales Bild. Aber es gehörte dem mythischen Denken an. Dieses setzt Ideale. Wenn aber Licht überall auf der Oberfläche der Dinge zirkuliert, bedarf es natürlich der Dinge noch, aber sie werden zu bloßen Oberflächen. Diese Verwandlung des Referenten zur Oberfläche von Licht absorbiert ihn im Sinne des gegenständlichen Bezugs. Von einer antiken Tempelruine, wo gerade noch Stummeln von Säulen aufragen, bleiben in einer Serie von Zuständen nur noch fließende farbige Flächen in gleißendem Licht übrig. Da sind zwar noch Farben und Licht auf dem Papier, also die Erinnerung an den Referenten in seinem Verschwinden. Das Aufsteigen der Farben an die Oberfläche ist keineswegs die Rehabilitation des Referenten. Was da ist, die Farbe, ist nicht in einem gegenständlichen oder symbolischen Sinn, es singt bloß, es erzeugt Rhythmus und Bewegung, bildet Assonanz, Kontrast, Kadenz. Es sind musikalische Termini, die sich mir für das Zirkulieren an der Oberfläche aufdrängen, wenn man andeuten soll, was da die Kunst ausmacht, was man selber direkt nicht sagen kann. Denn um die Farbe als Farbe, um die Form als Form geht es keineswegs.

 

In einer vierteiligen Arbeit von Genua gewährt eine schmale dunkle Gasse den Durchblick auf ein gewaltiges Gegenlicht, das sich hereindrängt. Während die hohen Häuser einander noch die Bäuche entgegen strecken, frißt das Licht sie schon weg und schmilzt sie ein. Da bilden sich keine abstrakten Formen heraus. Es ist nicht so, daß der Referent sich bloß in Abstraktionen verwandeln würde. Es kommen zwar häufig abstrakte Formungen vor. Diese sind jedoch nicht das Ziel. Sie sind nur die Tonleitern des Auges. Auch die Unschärfe da und die hohe Klarheit dort sind selber noch nicht die Kunst, sie machen sie aber zirkulieren.

 

5. Das Licht an die eigene Oberfläche ziehen, wo es Musik mit visuellen Mitteln macht, das scheint mir bei Gudrun Kemsas Römischen Fotografien (wie schon bei früheren) vorzuliegen. Ihr ist der Einsatz jedes Verfahrens recht, das die Effekte des Lichts steigert. Auch darin drückt sich die Respektlosigkeit gegenüber dem Referenten aus, daß sie das ihn repräsentierende fotografische Material allerlei Spiegelungs- und Umkehrverfahren unterzieht, also physikalisch und chemisch verändert, daß dieses sich bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigt. Durch diese Verfahren wird unsichtbares Licht sichtbar. Ein Gelb, ein Grün, ein Schwarz wird erzielt, das einem als Farbe nie begegnet ist. Ein seltsamer Splitter von Weiß vagabundiert in einem Gelb. An den Rändern fransen die Farben aus. Farbfäden verketten. Wenn man Vergleiche mit Malerei ziehen will, fällt einem eine Nähe zum abstrakten Expressionismus ein.

 

Nun muß ich zum Begriff der Oberfläche bemerken, daß er in der abendländischen Sinn-Geographie zwar früh von den Stoikern entdeckt worden ist, aber in der Philosophie nie eine Chance bekommen hat. Die Geographie des Sinns hat diesen entweder in die Tiefe oder in die Höhe verlegt. Der Sinn liegt in der Tiefe der Elemente, sagen die meisten Vorsokratiker. Nein, der Sinn liegt im Himmel der Ideen, also in der Höhe, behaupten Platon und die vielen Platonisten bis heute. In diesen beiden Verortungen des Sinns taugt die Oberfläche nichts. Diese negative Qualifikation hat sich auch in der Sprache niedergeschlagen. Tief heißt stets von großer Tiefe, hoch stets von beachtlicher Bedeutung. Oberflächlich aber heißt nicht von großer Oberfläche, es bedeutet stets von geringer oder keiner Tiefe. Die Stoiker (und die Römer standen ihrem Denken am nächsten) haben die Oberflächeneffekte als jene Repräsentanten des Sinns genommen, durch welche der Sinn in unendlicher Zirkulation begriffen verstanden worden ist. Da wird Oberfläche als unendlich bewegte Immanenzebene positiv gewürdigt. Ein Denken, das sich an den Künsten orientiert, wie das z.B. beim Franzosen Gilles Deleuze der Fall ist, gelangt heute wieder zu dieser positiven Vision der Oberfläche.

 

Die Verbindlichkeit der Auflösung des Referenten in der Fotografie kann für mich nur in dieser Entdeckung der Oberfläche als weites Feld liegen, wo Sinn (und Unsinn) unendlich kreuzen, verketten, kommen und gehen. Roland Barthes unterstreicht im genannten Buch über Fotografie, daß nicht die Überraschung die Kunst derselben ausmacht. Die Oberflächeneffekte, die bloß Überraschungseffekte sind, genügen also nicht. Der überraschende Referent kann das Seltene, das Bewegte, das Angestrengte, das technisch Verformte sein. Zu letzteren zählt er Doppelbelichtung, Anamorphosen, bewußte Ausnutzung bestimmter Defekte wie Randauflösung, Unschärfe, Verzerrung der Perspektive. Was bloß überrascht und schockiert, das überrascht und schockiert eben. Das setzt den Referenten effektvoll ein. Nicht alle Effekte ergeben also Kunst. Es sind Gudrun Kemsas strenge, empirische, experimentelle Verfahren jene Filter, welche Verkettungen der Lichteffekte von starker Klarheit, Rhythmik und Musikalität herausdestillieren.

 

6. Was die Komposition betrifft, so ist die formale Dezentrierung ein Mittel der Infinierung der Oberfläche. Keine Form wird in die bevorzugte Position einer Mitte des Bildes gebracht, auf die alle anderen hierarchisch zuarbeiten. Da gibt es zwar Horizontalen, Vertikalen, Krümmungen, Wölbungen, Bögen, Flächen, sie werden aber nicht nach Rücksichten von Vorder- und Hintergrund verteilt, sondern energetisch eingesetzt, nicht formal. Etwas Magnetisches (das nicht mit dem Überraschenden gleichgesetzt werden kann, denn es ist im Unterschied zum bloß Effektvollen ein Stilles) geht von vielen Fotografien dieser Künstlerin aus.

 

Zu den Strategien der Dezentrierung und Emergenz des Bildes gehört der Einsatz unterschiedlicher Lichtquellen: Seitenlicht, Oberlicht, Gegenlicht. Da ist eine Kuppel mit Oberlicht, seitlich spiegelt sich ein Licht, das da gar nicht existiert, schief gegenüber öffnet sich ein Fenster. Von drei Lichtquellen ist eine eine bloße Spiegelung, welche aber im Foto den gleichen Zweck erfüllt wie die realen. Heterogen wie die Anordung ist bei diesem Beispiel auch die Qualität der Lichter: ein helles, ein diffuses, ein mildes Licht. Diese Heterogenität in Anordnung und Qualität des Materials bewirkt, daß der Blick des Betrachters weggezogen wird, wandert, nicht zur Ruhe kommt.

 

Das Infinieren wird häufig durch den Begriff der Serie fortgesetzt. Es sind drei verschiedene Ausschnitte einer Kuppel nebeneinander gereiht. Die Bogenfragmente erzeugen Bewegung, Rhythmus, Welle. Der Kuppelraum zerfällt in Segmente und beginnt zu singen. Dreierlei Architekturen unterscheidet Paul Valéry im Buch Eupalinos oder der Architekt: solche, die stumm sind, solche, die reden, und solche, die singen. Eine Fotografie von Architektur muß mit fotografischen Mitteln solches Singen hörbar machen. Mit fotografischen Mitteln heißt, indem sie das Licht an seine eigene Oberfläche zieht, wo es etwas anderes macht als bloß einen Raum beleuchten. Eine häufige Strategie dazu ist bei Gudrun Kemsa das Bleichen des Lichtes, das über Mauern streift. Es singt gerade in seiner Unschärfe. Manchmal, so bemerkt Ludwig Wittgenstein, dient ein unscharfes Foto mehr als ein scharfes. Es sagt durch Atmosphäre mehr als durch Kontur. Dennoch arbeitet diese Künstlerin oft auch mit scharfen Kontrasten von großer Klarheit.

 

7. Die Transformationen der fotografischen Materie tendieren manchmal ins Organische, wenn Kuppeln in Quallen am Meer überschwappen, wenn serielle zelluläre Effekte zirkulieren, Bakterien funkeln, Moosflechten wachsen. In anderen Beispielen überziehen geometrische Raster von Glasarchitekturen die Fläche, spiegeln, biegen, verzerren sich durch abstrahlende Lichter und Farben. Konkav wird konvex und umgekehrt. Was sich nach hinten biegt, tritt plötzlich nach vorn. Was bergen möchte, stößt von sich.

 

Von Giotto sagt man, er habe Augen so gemalt, daß sie in virtuellen Linien wie nach mehreren Blickrichtungen gleichzeitig gucken. Durch extreme Untersicht der Dinge erreicht die Fotografie etwas ähnliches. Rechtecke werden Trapeze mit gebogenen Seiten, die flattern wie fliegende Leinwände im Dunkel. Eine andere frühere Arbeit erinnert an eine Drehtüre, eine Art "objet trouvé", wo sich nur ein Fenster im Fenster spiegelt.

 

Zur Malerei einerseits, zum Video andererseits drängt die Fotografie. Es ist die Bewegung von Licht, welche Gudrun Kemsa neuerdings veranlaßt, selber Videos zu machen. Sie filmt, wie der Schatten einer Säule, eines Baumes mit verschiedenen Geschwindigkeiten im Laufe eines Tages über einen Hof kriechen, wie letzterer ersteren einholt, auslöscht, überholt, wieder freigibt. Natürlich ist nicht die reale Zeit im Video aufbewahrt. Jede Minute fünf Sekunden lang schaut die Kamera dem Drama zu. Das ergibt jene Stauchung der Zeit, welche die Bewegung als langsames Fließen zur Sichtbarkeit bringt. Gelb ist in diesem Fall die Bühne des Lichtes, wo der Kampf des Lichtes mit dem Lichte stattfindet.

 

8. Keineswegs verschwindet auf der Immanenzebene der Fotografie die Grenze. Im Mythos von Phoebus und Phaeton war sie starr und absolut gesetzt. Es bekundete sich darin die Bosheit der griechischen Götter, ihre Überlegenheit nur behaupten zu können, indem sie die Transzendenz immunisierten. Die Transzendenz immanentisieren statt zu immunisieren, das macht die Kunst.

 

In einer Philosophie der Oberfläche ist die Grenze als bewegliche und infinite Wiederkehr von Intensitäten in einem Kontinuum ständig präsent. Das Kontinuum des Lichtes büßt nichts von seiner Mächtigkeit ein, wenn wir es als eine unendliche Oberfläche denken. Ihm intensive Verhältnisse abzuringen, welche die banalen und langweiligen Kreuzungen von Effekten aushebeln, heißt für den Schaffenden nun nicht mehr, mögliche Welten in der Tiefe der Dinge oder in der Höhe der Ideen auszuloten. So bliebe Kunst nur Mittel zum Zweck und wäre nicht selbst. Denn sie wäre bloß ein Verweis, ein Versprechen. Reale Mitarbeit am Unendlichen, das ist das rechte Verständnis des Schaffens, das die Oberfläche dessen weitet, dehnt, krümmt, was immer als Medium des Schaffens genommen wird. Es spannt sich eine Leinwand, eine Fotografie, ein Vorhang tut sich auf, ein Filmstreifen spult sich ab. Immer mischt ein Unendliches sich ins Endliche. Es ist nicht Leistung und Hybris eines Subjektes, das dem Unendlichen befehlen möchte. Der Schaffende ist kein anderer Mensch, er ist nur das Menschsein anders.

 

Der lenkt das Licht am besten, welcher am meisten von ihm gelenkt wird. Aber die Lenkung ist jetzt keine solche transzendenter Göttlichkeit mehr. "Unendlich ist das kleinste Stück der Welt", sagt Friedrich Nietzsche dem realistischen Maler. Nicht daß das Unendliche nun familiär und vertraut würde. Es erweist sich vielmehr bei jedem Verfahren als das Nicht des Verfahrens. Die Bosheit der alten Götter besteht in Form der Grausamkeit des Nicht-zwingen-könnens des Unendlichen weiter. Doch ist es nie weit weg, es ist gerade da, wo du bist. Wenn ich ein Bild dafür geben soll, so wäre die Möbius-Schleife ein Bild für Immanenz oder Oberfläche. Sie besteht nämlich aus nur einer einzigen Seite oder Oberfläche, auf der laufend man sich bald außen, bald innen befindet, wobei diese Oberfläche unendlich ist.

Rom, 22. November 1996

Lit.: Gudrun Kemsa, Ausstellungskatalog Deutsche Akademie - Villa Massimo Rom 1996