Christoph Schaden

 

Wieder Nacht

 

Es hatte ihn schon immer gestört,
daß zwei Augen, 
auch wenn sie zu einer Person gehörten, 
nie dasselbe sahen. 

Inka Parei, »Was Dunkelheit war« 


Eine Dunkelheit, die sich allabendlich über einen Strand legt, kann in der Erinnerung seltsam klare Empfindungen auslösen. Wer die Augen verschließt und etwas länger jenen Eindrücken nachsinnt, die sich unmittelbar nach Sonnenuntergang einstellen, wird wohl zunächst ein von Menschen verlassenes Terrain memorieren, vor dem das Meer wieder mit sich selbst zur Ruhe kommt. Winde legen sich und Wellen rhythmisieren im Gleichschlag eine Welt im Verschwinden, die dennoch kein Ende nehmen will.Nur der Sehsinn - so scheint es - hat ausgedient, wenn sich der Horizont unweigerlich im zunehmenden Grau verliert und die unerreichbare Linie, die dem Auge bei Tage noch Halt im Raumgefüge geboten hat, allein in der Erinnerung existent ist.

 

Man muss kein poetisches Bild bemühen, um sich die imaginative Kraft einer solchen nächtlichen Szenerie am Meer vor Augen zu führen. Dasjenige, was bei Tage noch da gewesen war, ist nun nicht mehr erkennbar und gleichwohl merkwürdig präsent. Für das künstlerische Werk von Gudrun Kemsa bildet das Motiv nicht zufällig den chronologischen Auftakt der vier Werkserien, die in dem vorliegenden Buch vereinigt sind. Im Jahr 1992 fand sie an den Stränden des tunesischen Küstenorts Sousse jene Grenzsituation, die so denkbar ungeeignet schien, in ein fotografisches Bild überführt zu werden. Im Zentrum der Aufnahme »Sousse 1« verharren denn auch ein Mann und eine Frau, ins Nichts der nächtlichen See starrend.Ihre Verortung im Bild lässt zunächst an die Malereien des großen Romantikers Caspar David Friedrich denken, der seine Figuren als Projektionsfläche für den Betrachter virtuos einsetzte, um im Visuellen die Bedingungen der menschlichen Existenz auszuloten. Spätestens bei dieser Referenz keimt der Verdacht auf, dass Gudrun Kemsa in ihrem Werk den Prozess des Sehens selbst verhandelt.So niedrig der Informationswert des Bildes im Sinne eines Dokuments auch sein mag, so forcierend stellt sich die Frage, was das Auge eigentlich festzuhalten vermag. 

 

Dasjenige, was in »Sousse 1« tatsächlich zu sehen ist, legt mehrdeutige Fährten des Erkennens. Aller romantischen Attituden entledigt, legt das Bild die Strandfläche als eine surreal anmutende Zone frei, die in ihrer prägnant gelblichen Beleuchtung, die für die mediterranen Länder so charakteristisch ist, eine eigene Künstlichkeit erzeugt. Sonnenschirme spenden überflüssigerweise Schatten, die sich als archetypische Kreisformen auf der sandigen Oberfläche abzeichnen. Wer den künstlerischen Lebensweg von Gudrun Kemsa kennt, mag an David Rabinowitch denken, ihren minimalistisch arbeitenden Lehrer an der Düsseldorfer Kunstakademie. Seine skulpturalen Bodenarbeiten sind allesamt auf unmerkliche Wahrnehmungsverschiebungen ausgerichtet, die die physische Disposition des Betrachters spiegeln. Im fotografischen Bild sind es hingegen ephemere Strukturen, die sich vis-a-vis der beiden Betrachtenden ausfindig machen lassen. Als Objekte sind sie im Bildraum kaum fassbar und verweisen gleichsam auf eine Zeitlichkeit jenseits des Erkennens. Handelt es sich um Gruppe, die nur kurz Rast machte, oder um eine Gehbewegung, die von einem der beiden Sitzenden ausgeführt wurde? Einmal mehr wird dem Blick eine Antwort verwehrt, einmal mehr kommen nicht nur die Dinge in Bewegung, sondern mit ihnen auch die Anschauung. 

 

Es verwundert wohl nicht, dass Gudrun Kemsa ihre 1992 entstandene Bildserie von Nachtstücken »Strandfest« genannt hat. Sie zelebrieren im Rezeptionsverhalten tatsächlich eine bewegte Form des Sehens und Erkennens, für die die Künstlerin bewusst den Begriff des Choreographischen verwendet. Die Decodierung visueller Notationen, die gemeinhin für die Festlegung von Tanzschritten verwandt werden, kann sicher im übertragenen Sinne als Leitmotiv ihres Schaffens gelten. In ihrer frühen Werkserie wird diese Strategie kenntlich im Blick auf eine Uferpromenade. In leichter Untersicht sind dort Menschen an einer Uferpromenade erfasst, das fotografische Farbbild zeigt sie in deutlicher Untersicht. Als Abstraktum legen ihre Oberflächen ein visuelles Gewebe frei, das erst über die Rhythmisierung der Orientierung suchenden Blicke der Augen eine Sehbewegung erzeugt. Es im Sinne des fotografischen Erkennens als Unschärfe zu bezeichnen, ist im Sehprozess obsolet. Denn was zählt, ist einmal mehr ein Aktivierungsimpuls des erkennenden Auges.

 

Die zweite, seit 2005 entstandene Serie der Bildkünstlerin trägt denn auch konsequenterweise den Titel »Bewegte Bilder «. Oberflächlich gesehen handelt es sich um panoramaartige Aufnahmen öffentlicher Räume, um Repräsentationsarchitekturen der Gegenwart, die bereits im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Der Potsdamer Platz in Berlin, La Défense in Paris, und in derselben Metropole immer wieder die Bibliothèque Nationale. Ihr Wiedererkennungswert ist zwar gegeben, doch sichtlich zurückgedrängt zugunsten der Bildwirkung eines horizontalen Verwischungsmoments, das offenkundig aus einer reflexartig anmutenden Geste der Bildermacherin resultiert. Ihr liegt ein künstlerischer Impuls zugrunde, den Betrachtungsraum als radikal autonomes Bild wahrzunehmen. Für den Betrachtenden bedeutet diese Vorgabe im Verortungsprozess des Auges einmal mehr ein mäanderndes Bewegungsmotiv. Dämmerung ist aufgezogen, Konturen verschwimmen und die Lichter der Nacht evozieren eine eigene Klaviatur des Sehens.

 

In dem Buch »Bewegte Bilder« hat Rolf Sachsse bereits 2003 sehr treffend dieses spielerische Grundelement in Gudrun Kemsas Bildarbeit in seinen wahrnehmungsphilosophischen und kunsthistorischen Bezugsgrößen aufzuzeigen gewusst. Inwieweit das tanzende Auge auch die kategoriale Erwartungshaltung des Betrachtenden mit einschließt, verdeutlicht eine 2006 begonnene Serie, die »Choreographien« benannt ist. Sie zeigt konsequent Menschen und Menschengruppen auf dem Plateau der monumentalen Treppenanlage in La Defénse. Ebenfalls im cinemaskopartigen Querformat gehalten, mag sich der Rezipient angesichts des Sujets vielleicht an bewegte Bilder der Kinoleinwand erinnern, etwa an die Potemkinsche Freitreppe in Odessa, die Sergej Eisenstein 1925 für seinen legendären Revolutionsfilm verwandte. Bei Gudrun Kemsa bleibt indes jedes dramatisierendes Element außen vor, stattdessen gibt sie den Blick in leicht gekippter Perspektive auf die oberste Treppenstufe frei, die wiederum den Boden eines Tableau Vivant bildet. Die Figuren - ob solo oder in Paarungen oder Gruppierungen präsent - scheinen in ihrer Vereinzelung merkwürdig künstlich verortet, eine allzu perfekt ausgewogene Komposition stellt sich offenkundig gegen den Dokumentcharakter, den das Auge wahrnehmen will. Inwieweit in diesen fotografischen Bildern das irritierende Moment der Anschauung selbst gespiegelt wird, offenbart sich nicht zuletzt in den bezugreichen Blicken der Figuren. Gudrun Kemsas Bilder sind Vexiere des Erkennens, die das Sehen nicht aus der Pflicht entlassen.

 

Letztes Jahr ist die Künstlerin wieder an einen Strand zurückgekehrt. An den Touristenanlagen des spanischen Küstenorts Adeje hat sie einmal mehr ein verlassenes Terrain gefunden. Es ist wieder Nacht. Die Schirme am Strand sind noch aufgespannt und geben bizarre leere Schatten. Das zur Ruhe gekommene Wasser bildet diesmal in mondänen Swimmingpools eine amorphe milchige Masse. Abermals scheint das Moment der Abwesenheit allgegenwärtig. Was läge näher, als in die Dunkelheit zu schauen? 

 

Lit: Gudrun Kemsa - Moving Images, Kehrer Verlag, Heidelberg 2006