Klaus Honnef

 

Gudrun Kemsa und die Straßenfotografie

 

Eine der wenigen genuin fotografischen Gattungen neben Mode-und Werbefotografie ist die Fotografie der Straße. Was sie von gewöhnlichen Bildern mit Ansammlungen von Menschen unterscheidet, ist der zufällige Charakter ihres Motivs, ist die Absichtslosigkeit, welche die dargestellten Menschen im Bezug auf die jeweilige Auf nahme an den Tag legen. Mag jeden auch eine bestimmte Absicht geleitet haben, im Augenblick der Aufnahme da gewesen zu sein, wo die Kamera sie erfasste - für das Bild zählt das nicht. Denn die Ziele der Menschen offenbaren sich nicht. Die Fotografie hat sie im Verfolgen ihres möglichen Wollens lediglich für einen winzigen Moment unterbrochen. So wie ihre Absichten bleibt die persönliche Seite der fotografierten Menschen verborgen. Allein ihre äußere Erscheinung, ihr Alter, Geschlecht, Gang und Kleidung erlauben, wenn auch nur oberflächliche, Schlüsse.

 

Wie die Mode-und Werbefotografie ist auch die Fotografie der Straße eine zutiefst urbane Gattung. Die Lebenswelt der städtischen Zivilisation liefert ihr die Kulisse. Das Dorf würde vermutlich eine Art Mischgenre erzwingen, eine formalisiertere Inszenierung in Richtung Porträt etwa. Eine der frühesten fotografischen Aufnahmen war bereits ein Straßenbild. Jacques Louis Mandé Daguerre hat es an einem Mittag anno 1838 auf dem Boulevard du Temple aufgenommen. Wegen der vielen Boulevardtheater, die mit ihren Aufführungen gerne die dunklen Ecken der Gesellschaft beleuchteten, nannte der Volksmund in Paris ihn auch Boulevard du Crime. Außer einer von Bäumen gesäumten Straße ist allerdings nur die Silhouette eines Mannes zu sehen. Die flüchtigen Erscheinungen der Straße entzogen sich dem Aufnahmespeicher der lichtsensiblen Platte hinter dem Objektiv des Apparates, weil es zu lichtschwach und die Platte zu unsensibel für die Bewegung war. Der Mann, der sich im Abbild erhielt, hatte für eine kurze Dauer verharrt, damit ein Schuhputzer sein Werk verrichten konnte. Die Dynamik des städtischen Getriebes bildet das vorherrschende Merkmal der Straßenfotografie. Selbst, wenn sie in der Mittagshitze des Südens phasenweise zum Erliegen kommt, wie in Walker Evans oder Ben Shahns Straßenbildern aus der Zeit der großen amerikanischen Depression, glimmt sie noch nach. 

 

Im weitesten Sinne gehören auch die neuen Bilder von Gudrun Kemsa im Panoramaformat, die Passanten in der Bewegung festhalten, zur Gattung der Straßenfotografie. Gleichwohl fehlt ihnen, womit ihre prägnantesten Beispiele sonst förmlich gesättigt sind:Die Atmosphäre der Großstadtszenerie. Nichts scheinen sie mit den Aufnahmen von Helen Leavitt aus New York oder den Bildern Beat Streulis aus aller Welt gemein zu haben - außer, dass sie Menschen in Bewegung zeigen. Aber statt an einem identifizierbaren Ort, und sei es an dem einer universalen Megalopolis, befinden sie sich augenscheinlich in einem unbestimmten Irgendwo, das vielleicht auch ein Nirgendwo ist. Ein blassblauer Himmel, gelegentlich ins Weiß spielend, liefert den Hintergrund, offen und womöglich grenzenlos, und nicht die vielgliedrige Architektur der Stadt und das Outfit ihrer Signale. Auf den spezifischen Ort der Aufnahmen deutet nichts hin. Am ehesten erinnern diese Bilder noch an die umfassenden Prospekte des Barock in den Kuppeln der Kirchen und Kathedralen des 17. Jahrhunderts, an deren Rändern bisweilen vorwitzige Engel auf die nach oben blickenden Betrachter hinuntersehen. In einer von Menschen erfüllten gläsernen Kuppel der Postmoderne, der des Reichstages in Berlin, hat die Künstlerin im Übrigen eine frühere Werkgruppe mit dem Titel »Bewegte Bilder« realisiert. Doch auch hier markiert sie den Ort nicht ausdrücklich. 

 

Außer der Farbe des Bildfonds befördert namentlich die durchgängig gewählte Perspektive die Assoziationen an die überwältigende Sicht der himmelstürmenden Barockmalerei. Man hat sie auch Frosch-oder Dackelperspektive genannt. Die Kamera ist erheblich unter der Augenhöhe der aufgenommenen Menschen postiert. Es ist der Blick in die höheren Sphären der Bedeutung, den sie suggeriert. Die Gläubigen schauten so im Gefühl der eigenen Nichtigkeit auf den Pantokrator im Zenith der Kuppel spätantiker Gotteshäuser,und die Untertanen im Gefühl der eigenen Machtlosigkeit auf den sockelerhöhten Herrscher. Der avancierten Fotografie diente die extreme Schrägperspektive im »Neuen Sehen« dazu, das eingeschliffene Weltbild bürgerlicher Selbstzufriedenheit aus dem Lot zu bringen und das Bild als einen Akt aktiver Wahrnehmung bewusst zu machen. In den weitläufigen Aufnahmen von Gudrun Kemsa überschneiden sich die perspektivischen Bedeutungen der Vergangenheit und auf eine vertrackte Weise durchkreuzen sie sich auch. Die Allmacht des endlosen Himmels und die augenscheinliche Monumentalisierung der Menschen treten in ein widersprüchliches Verhältnis, obwohl sich auf den ersten Blick keinerlei Beziehungsgefüge zwischen ihnen ergibt. Zugleich gemahnen sie aber auch an papierene Marionetten, federleicht, wie sie in asiatischen Kulturen anzutreffen sind. Der beinahe monochrome Hintergrund raubt ihnen die Plastizität, betont die Umrisse, selbst wenn der Schatten Kleidung und Körper konturiert. Der Blick von unten verschafft den zufällig vorüber eilenden Menschen am Bildrand eine Plattform wie eine Bühne. Auf der verwandeln sie sich in Akteure, in dramatis personae eines Stückes, dessen Fäden ein unsichtbarer Spieler zieht, so dass auf einmal das unbestimmte Verhältnis zwischen Menschen und Himmel eine metaphysische Dimension erhält.

 

Dass das breite Band am unteren Bildrand die oberste Stufe einer Treppe darstellt, verrät sich nur selten:Mit dem rechten Fuß schreitet eine junge Frau in kurzem Rock und beladen mit zwei gefüllten Taschen vorsichtig nach vorne aus, wobei die Spitze des Fußes außerhalb des Bildrandes gerät - das untrügliche Signal einer Abwärtstendenz. Sie blickt aufmerksam, wohin sie tritt, um einen Sturz zu vermeiden. Eine andere in Hosen, die sich auf dem Scheitel der Rampe befindet, greift mit einem reflexartigen Griff an ihr Haar. Die meisten Menschen eilen diagonal oder parallel zur Bildebene an den Betrachtern vorüber, im Rhythmus abwechselnd beschleunigter und gebremster Bewegung, kaum jemand frontal. Manche wenden der Kamera ihren Rücken zu, andere ihr Halb-oder Viertelprofil. Gleichgültig, welchen Weg sie einschlagen - ihr Verbleiben erstreckt sich lediglich auf einen kurzen Augenblick. Im Bild werden sie fixiert, doch ihre Bewegungsimpulse verselbstständigen sich. Sie streben nach rechts und links, nach unten, aber nie nach oben. Innerhalb der lang gestreckten Horizontale des potenziell endlosen Bildpanoramas findet eine Art Ballett unterschiedlich platzierter Protagonisten statt, bald in loser Gruppierung, bald in Isolation, bald in personeller Verdichtung. Die Menschen scheinen sich einer gewissen Choreographie zu fügen. Dazu trägt die betonte Rhythmisierung hinsichtlich ihrer Verteilung bei. Der flächenhafte Charakter der Bildpläne bewirkt, dass die sich von der Rampe des unteren Bildrandes entfernenden Menschen hinter dem Horizont des scheinbaren Bühnenbodens verschwinden, sie scheinen ins Leere zu fallen. Und gleichermaßen tauchen andere aus einem virtuellem Raum in umgekehrter Richtung wieder auf. 

 

Im Hin und Her der Bewegung fungiert das Band am unteren Bildrand einmal als Plattform, ein anderes Mal als Horizont, je nachdem, wo die Aufnahme die Passanten in der Bildebene fixiert hat. Die Folge ist der unaufhörliche und wachsend irritierende Wechsel seiner Funktion innerhalb einer überschaubaren Bildfläche. Damit verstößt Gudrun Kemsa bewusst gegen die Konventionen der räumlichen Bildordnung westlicher Prägung, gegen die immanente Wahrscheinlichkeit des Bildes dieser Herkunft, die von der Fotografie konserviert worden ist. Die Linie des Horizontes definiert sich, sobald der Raum zum Thema der Bilder wird, stets als die Grenze des Sichtbaren. Entweder verengt sie den Bildraum zum flächenhaften Prospekt, wenn sie im oberen Bildfeld angesiedelt ist, und schafft eine Atmosphäre wie in den Gemälden von Francis Bacon, oder sie öffnet ihn wie in der holländischen Malerei eines Jan van Goyen oder Jacob van Ruysdael und trennt im unteren Bildfeld die Erde vom Himmel. Rampe oder Horizont? Die einzige Waagerechte in Gudrun Kemsas Panorama-Aufnahmen hat zwar ihren Platz im unteren Bildfeld, jedoch nicht im Hinter-, sondern, entgegen den Erwartungen, im Vordergrund des Bildes.Ursache ist der Blickwinkel der Kamera. Durch ihre Stellung auf einer Treppenstufe weit unterhalb der Augenhöhe vergegenwärtigt sich, was für die fotografierten Menschen ihre Basis ist, in ihren Bildern tatsächlich als Horizont, hinter dem sich eigentlich nur der Himmel auftut. Die schräge Perspektive der Kamera verändert das gewohnte Regime der Wahrnehmung. So, wie sie den Raum in die Fläche kippt, genauer, als einen virtuellen Raum ausweist, dessen Parameter allein die unsichtbaren Vektoren der Bewegungsimpulse der aufgenommenen Menschen bilden. Diese beschreiben sozusagen den Raum hinter dem Horizont als eine Konstruktion aus nicht sichtbaren Strukturen. Insofern wird deutlich, dass die »Choreographien«, wie die Künstlerin ihren Bilderzyklus nennt, trotz Aufnahme »on location « mit der Gattung der Straßenfotografie allenfalls ein paar Äußerlichkeiten gemein haben. 

 

Es geht der Künstlerin weder um Dokumentation noch um Sozialreportage, obgleich das individuelle Gebaren ihrer unfreiwilligen Modelle sowie ihre besondere Kleidung reizvolle gesellschaftliche und kulturelle Aufschlüsse vermitteln können. Es geht ihr vielmehr um die Beziehungen zwischen sichtbarer Realität und dem in Bildern formulierten Widerschein;in diesem Fall, wie bereits in den früheren Werken der Künstlerin, um den Einfluss der Zeit auf die Wahrnehmung und die Dynamisierung des statischen Bildraums. Im unablässigen Erscheinen und Verschwinden passieren die Menschen den Standort der Kamera, der sich in keinem Hinweis identifiziert - tatsächlich handelt es sich um Paris -, und verkörpern eine Art Parabel des menschlichen Daseins. Sie verlieren sich, ohne Spuren zu hinterlassen. Im tendenziell endlosen Fries der Bilder, die ineinander verlaufen, weil sie digital ohne sichtbare Schnitte montiert sind, ist es, als würden sie nie aufhören können einzeln oder im Verein über den Horizont zu gehen. Nicht bloß, was die Bilder wiedergeben, ist dafür verantwortlich, sondern ihre spezifische Form, die ihre Betrachter gleichsam in das dargestellte Geschehen des Betretens der Bühne und des Abtretens von der Bühne einbindet, sie beinahe ein Bestandteil derselben werden lässt, allerdings in einem verrückten Bezug, einem regelrecht schrägen Verhältnis eines Dazugehörens bei gleichzeitigem Fremdsein. Denn die Wirklichkeit der Bilder behauptet ihre Eigenständigkeit. Unversehens erscheint das Vertraute fremd. Darüber hinaus erfolgt anders als im Film die generelle Bewegung der unterschiedlichen Bilderfriese in horizontaler und nicht der vertikalen Richtung. Den fortwährenden Schwenk der Kamera realisieren die Augen der Betrachter, die deren Blick gewissermaßen adaptieren. Damit entfällt auch die Orientierung nach Maßgabe einer Zentralperspektive zugunsten einer verunsichernden Multiperspektivität (oder Perspek- tivlosigkeit). Die Orientierung müssen sich die Betrachter durch eigene Bewegung vor den Bilderfriesen erschließen;Wahrnehmung und körperliche Aktivität verschränken sich. Gudrun Kemsa verschmilzt das traditionelle Darstellungsprinzips des Frieses mit seiner additiven Reihung des Figurenarsenals und die dynamische Lichtprojektion des Kinos und erschließt der Bildkunst ein noch unzulänglich ausgelotetes Terrain ambivalenter Erfahrungen dank beständig sich erneuernder und von neuem irritierender Wahrnehmungsimpulse. 

 

Lit: Gudrun Kemsa - Moving Images, Kehrer Verlag, Heidelberg 2006