Rainer Danne 

 

Vorwort 

 

Zeit, Raum, Licht und Struktur sind die Eckpfeiler der Wahrnehmungstheorie. Sie bilden aber auch den gedanklichen Rahmen, in dem sich die epistemologische Auseinandersetzung mit dem fotografischen Bild entwickelt hat. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, und die Reflexion über die Eigengesetzlichkeit eines reifen und zunehmend digitalisierten Mediums erlaubt eine autonome Bildsprache, in der es mehr um diskursive Möglichkeiten als um Wirklichkeiten geht. Das simple fotografische Programm überlappt ein komplexes System aus technischen, wissenschaftlichen, sprachlichen und künstlerischen Bezügen. Dieses Gefüge mit schlüssigen ästhetischen Metaphern sinnfällig zu machen, ist die Grundintention Gudrun Kemsas. 

 

Der Titel »Moving Images« legt den Bezug zum Film nahe. . In der vorliegenden Publikation geht es aber nicht um die Videoarbeiten der Künstlerin, sondern um vier ihrer jüngsten fotografischen Serien - »Choreographien«, »Bewegte Bilder«, »Strandfest« und »Nachtszenen«. Ist der Film ein System aufeinanderfolgender Zustände, so hat es das Einzelbild ungleich schwerer, Bewegung adäquat zu repräsentieren. Unbenommen ist die Tatsache, dass das fotografische Bild, wie beispielsweise Edgertons Schuss durch den Apfel, Dinge sichtbar machen kann, die durch ihre Geschwindigkeit dem menschlichen Auge verborgen bleiben würden. Die Wurzeln der Fotografie sind trotzdem in der Statik der Zentralperspektive der Renaissance und in der linearen Strenge der euklidischen Geometrie zu suchen, deren logisches System allerdings auf Axiomen beruht, die nicht zu beweisen sind. Der Glaube an die menschliche Retina als festen Fixationspunkt, in dem sich Strahlenbündel treffen, ist nachheutigem Wissensstand brüchig und trügerisch. Drehende »Erkundungsbewegungen«, das Ineinanderfließen eines sich entrollenden Bildfächers und nebeneinander gestellte, an chronofotografische Reihungen erinnernde Phasen, die viel eher den wahrnehmungsphysiologischen Bedingungen entsprechen, finden kaum Eingang in dieses System.

 

Tatsächlich funktioniert Wahrnehmung als dynamischer Prozess und permanente Abfolge von Sinneseindrücken, denen konstante Informationen unterlegt sind. Die Steinstufen vor blassblauem Himmel, aus der Untersicht aufgenommen, bilden so eine konstante Information. Sie sind die Folie, Kulisse und Bühne für die Choreographien, die das Ballett aus zufälligen Passanten als sukzessiven Prozess an dem nicht näher bestimmten Ort tanzt. Die entstehenden szenischen Panoramen scheinbar simultaner Bewegungsmuster erzeugen eine variable optische Struktur, die die Künstlerin als synthetische Phasen nebeneinander stellt. Sie suggeriert eine chronologische, bzw. parallele Abfolge, die doch Konstrukt im Sinne einer autonomen Bildfindung ist. Für den Bildgegenstand als Ganzes gab es in der Wirklichkeit keine tatsächliche Entsprechung. Es handelt sich um ein von der Künstlerin nachträglich inszeniertes Spiel mit Versatzstücken. Vor dem Hintergrund des bildnerischen Widerspruchs zwischen der eigenen Gegenständlichkeit und dem Substitutscharakter für einen anderen Gegenstand entscheidet sich Gudrun Kemsa bewusst für die Wirklichkeit des Bildes, die am Ende künstlerisch kontrollierbaren Bedingungen unterliegt.

 

Mit der vorliegenden Publikation und der begleitenden Ausstellung werden die neuen Bildserien von Gudrun Kemsa erstmalig zusammenfassend dokumentiert. Allen Beteiligten, die an der Realisierung des Projekts mitgewirkt haben, gilt der Dank der Künstlerin und der beteiligten Institutionen. Klaus Honnef und Christoph Schaden gebührt besonderer Dank für ihre informativen Textbeiträge, Allison Faye für die Übersetzungen und dem Team des Kehrer Verlags für die Unterstützung, Mühe und Sorgfalt bei der Herstellung des Buches. 

 

Lit: Gudrun Kemsa - Moving Images, Kehrer Verlag, Heidelberg 2006