Kay Heymer

 

Gudrun Kemsa, Urban Stage

 

Das Spezifische an der Arbeit von Gudrun Kemsa ist die Konzentration auf grundlegende Themen wie Zeit und Bewegung. Menschen werden nicht pychologisiert, Erlebnisse, Ereignisse oder Geschichten bleiben im Hintergrund, können bisweilen auf den zweiten Blick entdeckt werden. Es spielt keine wirkliche Rolle, wer die Menschen in den Bildern sind. Die Bildkomposition ist wesentlich. Menschen werden auch als rhythmische Vertikalakzente eingesetzt, mit denen der Bildaufbau gegliedert und gleichsam musikalisch in Szene gesetzt wird. 

 

Das ganz Elementare an den Bildern von Gudrun Kemsa mag banal klingen, ist aber wesentlich: wie jedes Foto stellen auch die Bilder von Gudrun Kemsa die Zeit still, sind Ausschnitte aus Zeit- und Bewegungsabläufen, die sich unaufhörlich ereignen. In Kemsas Fotos erscheinen die jeweils persönlichen Ereignisse wie zufällig erfasst, allerdings werden sie auch einer subtilen Regie unterzogen, wie auch die Architekturkulissen ihrer urbanen Bühnen bereinigt und geklärt erscheinen - allzu aufdringliche Werbung, Logos, aber auch Kaugummi auf dem Boden wird durch digitale Bildbearbeitung entfernt. Ganz unspektakulär nehmen Kemsas Bilder die Tatsache an, dass es längst keinen Wahrhaftigkeitsanspruch, keine dokumentarische Authentizität in der Fotografie mehr gibt. Es ist nicht wichtig, die Bilder von Gudrun Kemsa gattungsmäßig zu klassifizieren - sie sind weder Fotografien noch Malerei, wenn überhaupt, dann kann man sie vielleicht als Hybridfrom dieser beiden Bildgattungen bezeichnen. Vor allem sind es Bilder, deren Faszination sich allmählich, bei etwas längerer Betrachtung erschließt.

 

Indem sie darauf verzichtet, konkrete Ereignisse oder Geschichten zu erzählen, wird paradoxerweise die Identifikation mit ihren Bildern erleichtert. Bilder werden mit dem Anspruch gemacht, die Zeit, aus der sie stammen oder die sie kommentieren, zu überwinden und das zwangsläufige Vergehen der Zeit außer Kraft zu setzen, zu suspendieren. Gudrun Kemsa erreicht diese Qualität gerade durch das richtige Verhältnis von allgemeingültigen Formen und konkreten, benennbaren Details bei der Schaffung ihrer Bilder. Diese Bilder halten gewissermaßen länger, weil sie nicht die Tagesaktualität zum Thema haben, sondern grundlegendere Fragen wie jene nach der Zeiterfahrung des Betrachters. Ihre Panoramen sind Meditationen über das Vergehen der Zeit und den Stillstand, den wir alle gleichzeitig erträumen und fürchten. Zeiterfahrung wird in diesen Panoramen verstärkt, intensiviert. Die Bilder von Gudrun Kemsa interessieren uns also nicht nur auf der inhaltlichen Ebene, indem sie uns großstädtisches Leben in verschiedenen Zentren der Welt vor Augen führen - Venice Beach, New York, Dubai, Paris etc., Orte, die wir alle gern besuchen würden, die eine faszinierende Aura haben - sondern noch tiefgründiger, auf einer existenziellen Ebene, indem wir bei der Betrachtung ihrer Bilder erfahren können, was Zeit ist.

 

Ihre Bilder überbieten die herkömmliche Fotografie, weil sie deren zentralperspektivische Beschränktheit durch den Einsatz des extrem breiten Panoramaformats überwindet. Dadurch wird der Eindruck der Momenthaftigkeit, der die herkömmliche Fotografie auszeichnet, zugunsten des Eindrucks größerer Dauer ersetzt. Kemsas Bilder zeigen architektonische Plätze oder Straßenverläufe, wo Menschen eher entlanggehen als stehen zu bleiben. Ihr zentrales Thema ist offenbar der gehende Mensch in der Straße, und damit ist das Grundthema von Bewegung in Zeit und Raum angeschlagen. Indem sie zumeist viele Menschen zeigt, die ihrer je unterschiedlichen, persönlichen Geschichte nachgehen, macht sie das alle Einzelnen beherrschende, unausweichliche Vergehen der Zeit sichtbar. Sie tut das jedoch nicht mit pathetischer Geste, sondern beiläufig, fast freundlich und in Bildern, die optimistisch und positiv wirken - das Wetter ist gut, nichts Dramatisches oder Erschreckendes geschieht, jeder geht einfach seiner Tätigkeit nach. Gudrun Kemsas Bilder sind unspektakulär, lakonisch, aber präzise. Sie wirken vollkommen unangestrengt, obwohl sie mit erheblichem technischem Aufwand gemacht wurden. Das ist eine große Qualität, nicht nur in der bildenden Kunst. Wir alle wissen ja, dass das Einfache oft am schwersten zu verwirklichen ist.

 

Kay Heymer, aus einer Rede anlässlich der Eröffnung der Ausstellung von Gudrun Kemsa in der fifty-fifty Galerie, Düsseldorf, 26. November 2010.