Matthias Harder

 

Straßenphotographie, choreographiert

 

Wenn wir uns alle Labels im vertrauten urbanen Kontext wegdenken, jegliche Werbung und auch die meisten Schilder an Straßenecken oder Beschriftungen auf öffentlichen Verkehrsmitteln, entsteht ein verwirrendes Bild unserer Umwelt. Diesen Weg der Verrätselung und Reduktion wählt die Düsseldorfer Photokünstlerin Gudrun Kemsa seit mehreren Jahren mit ihren zunächst so realistisch anmutenden großformatigen Straßenbildern. Manche Firmennamen in und über New Yorker Geschäften und Luxusboutiquen werden von ihr in digitaler Nachbearbeitung zugunsten leerer Flächen eliminiert, was einerseits zu einer visuellen Beruhigung führt, zugleich jedoch Verwirrung stiftet. Auch auf Aufnahmen von Bahnhöfen hat sie früher bereits Hinweisschilder und Anzeigetafeln neutralisiert und deren Aussage auf einen inhaltlichen Nullpunkt radikalisiert. Damit schafft sie einen neuen Blick auf unsere vertraute Umgebung, die sie auf das von ihr so definierte Wesentliche konzentriert.

 

In anderen Straßenbildern konstruiert sie eine Gleichzeitigkeit solcher Situationen, die eigentlich nacheinander geschehen sind. Gelegentlich fügt sie Menschen und Realitätsschnipsel in einem Bild zusammen, ohne dass wir diese Montage wahrnehmen, und sorgt auf diese Weise für eine neue Art von Realität. Meist sind es Passanten, die in kurzem Abstand durch das Blickfeld ihrer Kamera spazieren - und wie in einer zeitlichen Verdichtung zusammengefasst werden. Gudrun Kemsa arbeitet dann wie die Regisseurin eines digitalen Films, der auf einem analogen Realitätsversprechen beruht. Auch andere zeitgenössische Künstler reizen die Spannung zwischen Wahrheit und Fälschung aus, den Bereich diesseits und jenseits des Authentischen.

 

In erster Linie scheint sich Kemsa in ihren aktuellen Bildkonstruktionen für eine (teilweise anschließend modifizierte) Choreographie der Menschen auf Bürgersteigen, Treppen und Plätzen zu interessieren. Ihr gelingt eine unnachahmliche Rhythmisierung, früher mit Säulen als architektonische Versatzstücke, neuerdings auch mit lebenden Figuren. In manchen Straßenszenen wirken diese geradezu skulptural, gleichzeitig wird die hektische Geschäftigkeit der Metropolen neutralisiert. Die Protagonisten erscheinen in unterschiedlichen Rollen und Größen: klein und geschäftig wirken sie auf den Bürgersteigen Manhattans, größer und entspannter vor einem blauen Himmelsfond in Paris oder Tunesien. Es geht natürlich auch um die tatsächlichen innerstädtischen Wege der Menschen von A nach B, vom Büro zum Restaurant oder nach Hause und wieder zurück, im Bild von links nach rechts oder umgekehrt. Die meisten Menschen sind bei Kemsa in Bewegung, verharren nur gelegentlich, etwa wenn sie auf Busse oder Freunde zu warten scheinen. Die Architektur wirkt manchmal wie eine Filmkulisse, und aufgrund dieser Wirkung mag sie von Kemsa als Hintergrundfolie auch ausgewählt worden zu sein. Die Künstlerin spürt intuitiv und unmittelbar, ob ein Ort als Motiv funktioniert. Die Detailschilderung und die Fokussierung auf Oberfläche, Material und repräsentativer Wirkung machen auch inhaltlich mehr aus dem vermeintlichen Hintergrundmotiv. Die städtische Bühne und die Zeitgenossen verschmelzen im Bild schließlich zur Einheit.

 

Gelegentliche Begegnungen und Begrüßungen der Menschen auf den Bürgersteigen stechen aus dem sonstigen, eher unbeteiligten Nebeneinander der Protagonisten heraus, so geschehen beispielsweise auf New Yorks 6th Avenue. Dort umarmen sich zwei Frauen herzlich, eine spontane Freundschaftsgeste, die - innerhalb des Kunstkontextes - auch an eine Videoarbeit von Bill Viola erinnert, der wiederum auf Jacopo Pontormo und dessen berühmte Umsetzung der biblischen Begegnung von Maria und Elisabeth rekurrierte. Bleiben wir in New York und spazieren mit Kemsa auch die 5th Avenue und den Broadway entlang, so staunen wir weiterhin über fehlende Werbung und (digital) abmontierte Hinweisschilder. Alles wirkt wie der zufällige, flüchtige Blick auf die andere Straßenseite respektive den gegenüberliegenden Bürgersteig inmitten Manhattans, ohne dass dabei allerdings die vielen Taxis, Busse, Feuerwehrautos oder Stretchlimousinen durchs Blickfeld huschen. Das menschliche Maß ist an diesen urbanistisch so verdichteten Orten außer Kraft gesetzt; dies zeigt sich selbst in Kemsas marginalisierten Aufnahmen der monumentalen Hochhausschluchten. Es handelt sich um eine Inszenierung des alltäglichen Geschehens, um gebaute Bilder, um das bewusste und überlegte Porträt einer Stadt inklusive ihrer Bewohner oder Besucher. Die Kommunikationslosigkeit der meisten Zeitgenossen überrascht; Distanz und Nähe existieren gleichermaßen, doch das Nebeneinander überwiegt das Miteinander. Kommunikation findet auch im Werkprozess kaum statt, es existiert kein Blickkontakt zwischen der Künstlerin und den Menschen vor ihrer Kamera, während sie diese in die architektonischen Hintergründe einbettet.

 

Doch sind nicht alle Hinweise auf die Topographie und den urbanen Kontext eliminiert. Die in den Bildern stehengebliebenen Zeichen bekommen durch ihre Singularität eine besondere Wertigkeit, einmal beispielsweise eine Hinweistafel auf eine nicht näher zu bestimmende Gefahr; durch die zurückhaltende Bildbearbeitung wird unser Blick auch für das Detail geschärft. Teilweise retuschiert Gudrun Kemsa Kaugummireste auf den Bürgersteigen weg, sollten diese die für sie wichtige Reduktion auf das Wesentliche beeinträchtigen. Kemsas junger Kollege Falk Haberkorn geht mit einer ähnlichen Perfektion zu Werke; so säuberte er einmal in stundenlanger Arbeit einen Waldboden, bevor er an dieser Stelle mit seiner Plattenkamera den Wald photographierte. Über den ungewöhnlichen Anblick des aufgeräumten Außenraumes entstand eine rätselhafte Bildstimmung - wobei man zunächst gar nicht erkennen konnte, was genau dort nicht stimmt; der Ort wirkt wie ein Tatort. Ist es letztlich für das Bild entscheidend, ob der eine Photograph alle kleinen Stöckchen und Blätter per Hand von einem Waldboden absammelt oder die andere Photographin per Mausklick festgetretenes Kaugummi vom Trottoir entfernt? Diese Frage muss unbeantwortet bleiben; die erste Variante erscheint heutzutage zumindest etwas ungewöhnlicher. Interessant hingegen bleibt der sich ähnelnde Gestaltungswille, dem die vorgefundene Wirklichkeit unterworfen wird.

 

Gudrun Kemsa wählt eine aufwändige Postproduktion und teilweise extreme Bildformate von bis zu sechzehn Meter Breite. Sie arbeitet gelegentlich auch das Farbige und Grelle im Motiv heraus, etwa Mitte der Neunzigerjahre als Stipendiatin der Villa Massimo in Rom, und zwar durch anschließende Dunkelkammerexperimente, indem sie Farbdiamaterial als Negativ vergrößerte. Während seinerzeit die Säulen der Kolonnaden vor St. Peter und deren Schattenwurf den Bildraum ihrer Photographien rhythmisierten, sind es heute Menschen in ihrer Staffelung innerhalb des Bildfeldes. Diese werden von Kemsa geradezu choreographiert, nicht etwa indem sie deren Handlungen und Haltungen performativ inszeniert, sondern vielmehr durch den Kamerasucher und den Bildausschnitt vor Ort - oder ein gelegentliches, zeitliches Zusammenziehen der Situation und der Passanten, was ja auch unserer menschlichen Wahrnehmung einer sukzessiven Rezeption entspricht. Die Protagonisten in Kemsas Photographien befanden sich demnach alle am gleichen Ort, nur nicht immer zum selben Zeitpunkt. So werden neue räumliche und zeitliche Verbindungen geschaffen, und gleichzeitig bleibt hier der berühmte Rest des Authentischen gewahrt. Denn selbst mit dem Wissen um die gelegentlichen minimalen Manipulationen des Real-Vorgefundenen bleiben die Bilder glaubwürdig.

 

Architektur erscheint in ihrem Werk häufig flächig. Selbst die überstrahlten Fensteröffnungen oder Durchblicke antiker römischer Ruinen in früheren Aufnahmen werden durch die Helligkeit des Lichts formal zur bloßen Fläche und verweisen nicht - wie üblich - auf den Bereich dahinter. Das Licht, dieses genuin photographische Mittel, wird bei Kemsa zum formalen Strukturelement - auch wenn es als Verschattung oder Negativform verwendet wird. Es scheint in manchen früheren Aufnahmen beinahe so, als ob sich die Architektur dem Licht unterzuordnen hätte: Hier wird eine Kontur vom grellen Sonnenlicht aufgelöst, dort durch einen dunklen Schatten verdeckt. In ihren aktuellen Bildern spielt Licht hingegen eine subtilere Rolle: Gudrun Kemsa photographiert zwar mit Vorliebe bei sonnigem Wetter gegen Nachmittag, wenn die Schatten der Personen länger werden und das Bildfeld zusätzlich strukturieren. Dem Licht selbst spricht sie in den Photographien allerdings keinen Eigenwert mehr zu. Die gesamte Szenerie wirkt, entgegen der formalen Abstraktion im Frühwerk, durch die Unmittelbarkeit der Darstellung und die natürlichen Farben real, mitunter wie gemalt. Allein die sonnendurchfluteten Wege und Plätze erscheinen sauberer, gelegentlich steriler, als sie in Wirklichkeit sind. Intensivere Farben, die sie im öffentlichen Raum vorfindet, inszeniert sie punktuell und sparsam.

 

Was man früher grundsätzlich durch Über-, Doppel- und Langzeitbelichtungen oder selbstgebastelte Masken, mit denen bestimmte Partien des Negativs in der Dunkelkammer abgedeckt wurden, erreichte, vermag ein Künstler heute bekanntlich am heimischen Rechner mit bildverarbeitender Software zu erzeugen. Und dies ist selbstverständlich nicht nur in der künstlerischen, sondern vor allem in der angewandten Photographie üblich: Die meisten Bilder der heutigen Werbewelt werden in zahlreichen Entstehungsschritten zusammengesetzt, bis der gewünschte visuelle Effekt erreicht wird, der nichts mehr mit einer herkömmlichen Abbildungsgenauigkeit zu tun haben muss. Genau hier setzt Gudrun Kemsa an; sie hat keinerlei Berührungsängste mit anderen Bereichen im weiten Feld des Photographischen. Ob analog oder digital ist ihr einerlei, und in der aufwändigen Postproduktion steckt überdies ein spielerisch-kreativer Ansatz. Auch intermedial gibt es zahlreiche Verbindungen und Überscheidungen in ihrem Werk: So arbeitet sie parallel auch mit Video und Sound. Musik scheint - nicht nur aufgrund einer Selbstäußerung der Künstlerin - über die Idee des Rhythmus hinaus ein weiterer Schlüssel zum Verständnis ihrer Photographie zu sein. Eine andere zentrale Bildidee bleibt für Kemsa der Faktor Zeit, die Visualisierung einer Dauer - was selbstverständlich auch für ihre Videoarbeiten gilt. Während manche Kollegen in großangelegten Aufnahmeserien arbeiten und darin nur einen Aspekt durchdeklinieren, verdichtet Gudrun Kemsa eine Bildidee zu in sich komplexen Einzelwerken, denen gelegentlich ein oder mehrere Partnerbilder an die Seite gestellt werden, etwa in den Treppenpanoramen, in denen mehrere Menschen zu einer neuen Dramaturgie zusammengefügt sind. In dieser raumkonstituierenden Verteilung der Figuren im Bildfeld kommt ihr wohl auch die eigene künstlerische Ausbildung als Bildhauerin zugute. Die Aufnahmen, die authentisch und virtuell zugleich sind, entstehen in Paris, New York, Rotterdam, Berlin, Dubai und anderen Orten. Manche bleiben vage, andere sind eindeutig zu identifizieren; gelegentlich werden sie durch die Eliminierung von Schrift und Hinweisschildern zu austauschbaren Orten unseres globalen Dorfes.

 

Auch ihre Kollegen Beat Streuli, Mona Breede oder Florian Böhm beobachten Menschen im öffentlichen Raum und kommen zu ähnlichen Bildergebnissen; doch jede künstlerische Position bleibt im Hinblick auf den Grad des Beobachtens und der bildhaften Rekonstruktion des Menschen im urbanen Kontext letztlich eigenständig.

 

So zeichnet sich eine interessante Entwicklung in Kemsas Werk ab: eine Abkehr vom ausschließlichen Blick auf die Architektur hin zum urbanen Bühnengeschehen, in dem Menschen als Statisten und Protagonisten die Rolle einer Verlebendigung sowie eines raumkonstituierenden Faktors übernehmen. Doch deren Bewegung, gleichzeitig im eigenen Videowerk ein zentraler Aspekt, wird hier eingefroren. Es entsteht eine unvergleichliche kühle Statik als Spielart der "street photography", dieser jahrzehntealten Kategorie der Photographiegeschichte.

 

Lit: Gudrun Kemsa - Urban Stage, Kehrer Verlag, Heidelberg 2010