Birgit Birnbacher

 

Die Verflüssigung des Rahmens

Gedanken zu: Gudrun Kemsa – Moving Portraits

 

Wenn Sie zehn Menschen bitten, zu beschreiben, was ein Raum ist, erhalten Sie wahrscheinlich spannende Antworten. Es ist unwahrscheinlich, dass eine der anderen gleicht. Einfacher wird es vielleicht, wenn Sie nach ihrem Arbeitsplatz fragen. Wahrscheinlich werden sie etwas von Zimmer oder Büro hören, wahlweise von Vorzimmern, auf Nachfrage, von Hinterzimmern. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Arbeitsplatzes sind ein Thema für sich in der Kulturarbeit, wo die Akteur*innen es häufig mit Räumen zu tun haben, die auch eine Öffentlichkeit etwas angehen, im weitesten Sinne also Sie, sofern Sie sich gemeint fühlen möchten. Das Besondere des Raumes im soziologischen Sinne ist, dass er erst zu eben diesem wird, wenn jemand hineingeht in ihn. Und das Besondere an einem Panorama ist, dass es erst zum Solchen wird, wenn jemand bereit ist, sich umzudrehen, mit geradeaus gerichtetem Blick.

Menschen in der Kulturarbeit sind in besonderen Räumen und zu besonderen Bedingungen tätig. Sie arbeiten auf einer nicht immer offensichtlichen Bühne, jedenfalls aber an Aufträgen, welche mit Erwartungen der Zivilgesellschaft und der breiten Öffentlichkeit, aber stets auch mit jenen von qualifizierten Minderheiten verbunden sind. Sie repräsentieren geschichtsträchtige Häuser und Hallen gleichsam der Handschrift ihrer künstlerischen und kulturellen Inhalte. Nicht selten haben sie sich der Geschichte und Weiterentwicklung ihrer Häuser mit höchstem Engagement verschrieben. Dabei werden sie zumeist von mehreren Instanzen eben jenes Äußeren beobachtet, auf welches sie mittels ihrer Entscheidungen direkt oder indirekt einwirken: Öffentlichkeit, Stakeholder, Zielgruppen und Diskurs wollen bespielt werden, und gleichzeitig wollen sie „spielen“, also kulturelle Angebote und Richtungen erfahren. Die Räume, in denen Kulturarbeitende sich aufhalten, stehen für mehr als sich selbst und sind nicht selten von hohem symbolischen und/ oder kulturellem Wert, der eine Öffentlichkeit oder Teilöffentlichkeit ebenso betrifft wie jene, die darin Eindrückliches zu bewirken vermögen.

Wenn wir nun von Räumen sprechen, ist es dienlich, sich auf ein paar grundsätzliche Bedingungen für Raum zu beziehen, welche Georg Simmel als der Urvater der Raumsoziologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Qualitäten des Raumes zusammenfasste. Da wäre zum Beispiel die Ausschließlichkeit und Einzigkeit des Raumes  zu nennen, die Tatsache, dass ein Raum nicht zugleich ein anderer sein kann, was vor allem durch die zweite Raumqualität, die Fixierung von Inhalten unterstrichen ist und erfahrbar wird. Vereinfacht gesprochen: Wozu ein Raum dient, ist häufig daran erkennbar, was darin vorhanden ist. Weiter muss mit Simmel die Möglichkeit zur sinnlichen Nähe und Distanz gegeben sein, der Raum also für den Menschen und seine Begegnungen erfahrbar werden. Dies wird beispielsweise durch Bewegung und Ortsveränderung ermöglicht. Der Mensch kann sich durch Hinausbewegen aus dem Raum entfernen. Außerdem betont Simmel die Zerlegbarkeit durch Rahmen und Grenzziehung als fünfte Bedingung für den Raum, welche gerade für Kulturräume, deren Begrenzung auf besondere Weise verschwimmt, eine besondere Gültigkeit zu haben scheint.

Fangen wir im Alltag an. Wenn Sie durch die Stadt gehen, begegnen Sie Menschen, die sich im öffentlichen Raum bewegen und aufhalten. Die Erfahrung ermöglicht Ihnen, Tourist*innen von ortsansässigen Schüler*innen zu unterscheiden, sowie Ausführende bestimmter Tätigkeiten auch bestimmten beruflichen Kategorien zuzuordnen. Darüber hinaus registrieren Sie aber noch mehr. Sie bemerken, ob jemand sich auf eine Bank setzt, um eine Pause zu machen, oder ob jemand dort sitzt und die Zeit totschlägt, auf nichts Konkretes wartet und nirgendwo mehr hinmuss. Besonders deutlich wird dieser Unterschied zum Beispiel in Aufenthaltszonen von Einkaufszentren, wo untertags viele der Menschen sind, die einen trockenen und wohltemperierten Platz zum Sitzen suchen. Mitunter registrieren Sie rein auf Basis der Beobachtung, auf welche Weise jemand sein Mittagsessen zu sich nimmt, wie jemand auf das Display seines Mobiltelefons schaut, oder den Inhalt seiner Tasche überprüft, ob es sich um einen arbeitenden oder einen nicht arbeitenden Menschen im herkömmlichen Sinne handelt. Daraus leite ich die Behauptung ab, dass der Mensch seine Räume gewissermaßen mit sich trägt, und diese Räume dadurch auch für andere erfahrbar werden. Zugegeben, vielleicht ist dieses Erfahrbar-Sein einfach das Ergebnis Ihres soziologischen Alltagswissens, und das, was ich gerne als die Strahlkraft des Raumes bezeichnen würde, nicht mehr als ein Hinweis auf eine korrekt vorgenommene soziale Kategorisierung, wie sie bereits jedes Kind zusammenbekommt. Zumindest bleibt aber die Ahnung, dass wir die Räume, die uns umgeben, auf eine Weise mit uns herumtragen, die für andere erfahrbar ist.

Fest steht, niemandes Arbeitsplatz endet oder beginnt einzig und allein an einer Raum- oder Grundstücksgrenze. Dies wäre, wenn überhaupt, nur in einem rein geographischen oder architektonischen Verständnis der Fall, keinesfalls aber zu den soziologischen Bedingungen des Raumes. Für die Kulturarbeit mag dies im Besonderen gültig sein.

Falls Sie zu jenen gehören, denen die Entgrenzung der Arbeitswelt im zeitlichen und räumlichen Sinne (Stichwort Digitalisierung) bereits zu den Ohren herauskommt, kann ich Sie beruhigen: Ich fange erst gar nicht damit an. Lieber möchte ich das Netz als Bild für etwas anderes heranziehen, was mir in der Betrachtung der Räume der Kulturarbeit erwähnenswert scheint.                              

Die Aufgaben und Auswirkungen der Kulturarbeit sind, wie Sie alle wissen, längst nicht auf einzelne konkrete Arbeitsaufgaben beschränkt, sondern verzweigt und verteilt auf eine Vielheit von Wissens- und Erfahrungsbereichen. Das Ganze ist in einer Berufsbezeichnung wahrscheinlich nicht mehr treffend kategorisierbar, wir würden sonst kaum von Kulturarbeit in diesem (weitesten) Sinne reden. Die Arbeit wuchert also mit ihren Aufgaben nicht nur über ihren stets neu zu definierenden, eigenen Rahmen hinaus, sie hat ihr Wirken über eben diese Grenzen hinweg, die Verflüssigung des Rahmens, auch als Kern des Wesens ihrer Aufgabe.                    

Das bedeutet, dass es nicht genügt, sich einen bestimmten Bereich abzustecken, um sich fortan innerhalb dieses zu erstrecken und zu etablieren. Der Mensch in der Kulturarbeit hat auch die Aufgabe, stets das eigene Netz über seinen unmittelbar erfahrbaren Wirkungsbereich hinaus zu erweitern und es auf diesem Weg in Gefilde zu erstrecken, die womöglich nicht selten, wenn überhaupt, feinstofflich existieren. Schlicht gesprochen: Der Mensch braucht die Ideen, die sonst niemand hat, und das Charisma, damit man ihm diese auch abnimmt, ja mehr noch: Dass andere (im Idealfall) an deren Verwirklichung beteiligt sein möchten.

Der bereits erwähnte Georg Simmel fasste die Wechselwirkung zwischen dem Raum und den Individuen, welche in ihm zu schaffen haben, als eine durch den Rahmen des Raumes begrenzte Einheit auf, welche erst durch die Begrenzung ebendieses Rahmens zugleich über ihn hinauswirken kann. Dazu findet er eine, auch für die Kulturarbeit treffliche, Analogie: „Der Rahmen, die in sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes, hat für die soziale Gruppe sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk.“    

Die Arbeitskraft des Einzelnen, womit also neben Aufgaben, Status, Kenntnis und Qualifikation auch das gemeint ist, was gemeinhin unter Charisma bekannt ist, wirkt also über die Grenzen (des Menschen, des Raumes, des Auftrags) auf Öffentlichkeit, Zielgruppe und Diskurs hinaus, und tut dies nicht zuletzt dadurch, dass sie die Begrenzung zwischen Mensch, Wirkungsstätte und allem Äußeren, im stetigen Fluss hält. Erst durch ihr Menschsein durchwirkt sie (die Arbeitskraft) die Örtlichkeit, und erst durch die Betrachtung und Wahrnehmung, letztlich also das Menschsein, durch andere, erreicht ihre Arbeit die Eindrücklichkeit in allem Äußeren. Die räumlichen Bedingungen, zu denen sie dies tut, schaffen ihr einen Rahmen, der es zur Aufgabe hat, sich fortlaufend selbst abzuschaffen. Immer dann, wenn sie ihn durchdringt, erreicht sie etwas (ein Stück des Ziels; den Eindruck, den ihre Arbeit in der Welt hinterlässt), und holt gleichzeitig neue Fragen zu sich hinein, welche sich daraus ergeben, dass die Welt, die es fortan zu beeindrucken gilt, nicht mehr die gleiche ist als jene, die diesem Eindruck vorangegangen ist, und immer so fort.                                              

Quellenangaben

 

Raumqualitäten nach Simmel aus: Handbuch Sozialraum. Kessel/Reutlinger/Maurer/Frey (Hrsg.), VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden, 2005, S. 34f

 

Kunstwerk-Analogie Georg Simmels aus: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft. Simmel, Georg in: Geser, Hans. Soziologisches Institut der Universität Zürich. Onlineaufbereitung. http://socio.ch/sim/soziologie/soz_9.htm, aufgerufen am 24.05.2019, S. 460ff

 

Allgemeinen Inhalte zur Soziologie des Raumes aus:

Entgrenzung und Subjektivierung der Arbeit: Günther Voß, TU Chemnitz, Vortrag an der: Denkwerkstätte Graz, Karl-Franzens-Universität Graz. Graz, 2017

Raumsoziologie. Löw, Martina. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main, 2000

Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes. Schröer, Markus. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main, 2005

 

in: Moving Portraits, Fotohof, Salzburg 2019