Tayfun Belgin 

 

Mein Motiv ist das Gegenüber - Anmerkungen zu Gudrun Kemsas New York-Bildern

 

In einem kurzen Beitrag zur Bilderserie Manhattan äußert sich die Künstlerin so:

„…Die urbane Umgebung wird zu einer Bühne, auf der die Personen agieren. Das Licht ist hell und klar und fast wirkt es, als ob es nur dafür geschaffen wurde, die ganze Szenerie auf natürlich Weise perfekt auszuleuchten…“

 

Die Welt ist eine Bühne, vor allem in den Städten, in denen sich Menschen gezwungen oder leger und frei sich bewegen, finden unendliche Aufführungen Tag für Tag statt. Realität ereignet sich hier immer im Plural, niemals erhalten wir ein Bild dieser Welt. Alles ist im Fluss, wie die Vorsokratiker uns lehrten. Alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln. Zeit und Bewegung werden daher zu unseren Konstanten. Die Bilder veranschaulichen auf ihre Weise, was wir unter Bewegung und Vergänglichkeit begrifflich fassen. Jenseits von Zufälligkeit  mag es ein konzeptueller Impuls für Gudrun Kemsa gewesen sein, als sie sich entschied, mit ihrer Fotografie bewegte Bilder zu generieren. Immer wieder begegnen uns in den Fotografien Menschen, die in Bewegung sind, die schnell oder langsam gehen, sich umdrehen, verharren, anderen begegnen und irgendwann an einer Ampel ihr Gehen einstellen, um kurze Zeit später sich wiederum zu bewegen. 

 

Gudrun Kemsa beobachtet. Sie hat ein Gegenüber. Das ist Ihr Motiv. Sie ist die eine Seite, das Gegenüber ist die andere. Sie beobachtet während andere agieren; eine eigentümliche Asymmetrie würde Niklas Luhmann sagen. Stiller Beobachter und bewegte Partner, wobei letztere eher unfreiwillig zu Agierenden dieser Bilder werden. Für das Manhatten-Projekt war Gudrun Kemsa mehrmals in New York, und zwar zu sehr unterschiedlichen Zeiten. Dass gerade dieser Teil von New York nahezu alle Besucher begeistert, liegt auf der Hand. Wir befinden uns einerseits im Zentrum des Hochkapitalismus. Dieser generiert Bilder von zum Teil unendlicher Schönheit auf den Straßen und Plätzen. Ein anderer Teil dieser nie ruhenden Insel offenbart eine gänzlich andere, sehr eigentümliche Ästhetik: Downtown, Little Italy oder Harlem, auch diese Teile der Stadt werden fotografiert und sind in unzähligen Filmen präsent. Doch diese Stadtteile neigen zu Erzählungen, die nicht im Fokus von Gudrun Kemsa sind. In diesen Regionen entstehen Mythen von Helden, von Mafiabossen genauso wie von genialen Jazz-Musikern. Diese Erzählungen sind Stoff für Filme jeglicher Art, von Liebesfilmen bis hin zu brutalen Gangs. New York ist auch der beste Ort US-Amerikas für Überhöhungen und Neurosen, von der Wall Street bis zu den bevorzugten Orten Woody Allens.

 

Gudrun Kemsas beobachtendes Auge nimmt Aktionen wahr, die uns mangels Zeit oder mangels Interesse entgleiten. Wir sehen Gudrun Kemsas Motive nicht, richtiger formuliert: wir nehmen dieses Geschehen auf der Straße nicht mit ihren Augen wahr. Um teilzunehmen an dieser fluiden Welt, die keinerlei Substanz hervorbringt, benötigt man Zeit. Wenn Zeit gegeben ist, gewinnt das Spiel mit der flüchtigen Welt der Straße an Faszination. Zeit ist die Bedingung für Gudrun Kemsas Fotografie.

Wir als Betrachter gehen in aller Regel vorbei an möglichen Inszenierungen, die die Fotografin herbeiführt. Sie aber beherrscht das Prinzip des Zueinander und Miteinander. In aller Regel beobachtet Gudrun Kemsa konzentriert die gegenüberliegende Straßenseite und wartet so lange, bis Menschen, die sie nicht kennt, zueinander finden und ein Bildmotiv für die Künstlerin liefern. In diesem Moment werden sie durch eine kurze Berührung des Auslösers verewigt. 

 

Konkret: In dem Bild 42nd Street 03, 2018 begegnen sich vor einem Prada-Geschäft zwei Menschen auf dem Bürgersteig, die sich bis vor kurzem nie begegnet sind. Am linken Rand des Schaufensters schaut ein Mann nach rechts in Richtung einer elegant gekleideten Dame, die auf ihn zuschreitet. Es ist dieser entscheidende Moment, um mit Cartier-Bresson zu sprechen, der Gudrun Kemsa dazu bewegte, diese beiden, für sie anonymen Personen aufzunehmen. 

 

Beide, der Tourist mit Kappe und 3/4-Hose links, wie auch die in grünem Kleid gekleidete New Yorkerin, die mit ihrem Handy telefoniert, sind im Moment des Fotografiert-Werdens  Akteure vor einer gewaltigen Betonarchitektur. Sie betonen die vertikale Dimension des Gebäudes. Die Dame recht ist gerade noch im Rahmen eines Eingangsbereichs, des Hauses Nr. 724 hinter ihr, während sie schon im Begriff ist, das Prada-Geschäft zu erreichen. Der Mann links steht links an der vertikalen Kante des Ladenlokals. Das Geschäft selbst mit seinen Auslagen an Kleiderpuppen ist in diese helle Betonarchitektur gleichsam eingelassen. Hier offenbart sich ein Prinzip der aktuellen Fotografie von Gudrun Kemsa. Sie komponiert ihre Fotografien mit Basislinien, mit der Vertikalen und Horizontalen. Hinzu kommen Fenster als Rahmen für Passanten, Türeingänge mit strenger Geometrie, als Leitachsen dienen: Ampeln, Säulen, Bushaltestellen mit einer Informations-Steele, herunterhängende Lampen an Gebäuden usw. 

 

Ein differenzierter Blick gilt  jenen Fotografien, die nicht mehr das „flache“ Gegenüber einer Architektur als Grundmotiv haben, sondern die eine Ecksituation zeigen. Zum einen bietet sich hier eine andere Tiefe an, zum anderen erweitert sich der Rahmen der Handlung. Menschen gehen von links nach rechts und umgekehrt; sie überqueren eine Ampel, einige verharren für kurze Zeit. Das hinter ihnen liegende große Ladenlokal hat nicht mehr die große Präsenz für das Auge. An dieser Stelle lässt sich fragen, ob dieser Art der Street-Fotografie eine Erzählstruktur inhärent ist.

Festzustellen ist, dass wir in diesen Bildern eine Darstellung haben, die ein Geschehen wiedergibt. Es handelt sich allerdings nicht um eine klassische Narration, es gibt keinen Akteur, der einem anderen etwas erzählt. Hier begegnen sich Menschen auf der Straße, auf einer Treppe in der Metro, die sich nicht kennen und über die bildlich in einem bestimmten Moment berichtet wird. In der Bilderfolge Subway von 2018 werden die Zufälligkeiten im Gegensatz zur Straße noch stärker herausgestellt. Hier, im Untergrund der Stadt, scheint die Anonymität noch stärker als auf der Straße. 

 

Bezüglich der drei klassischen Einheiten: Zeit, Raum und Handlung, die Aristoteles bei einem Drama als notwendig erachtete, hätten wir in den Bildern von Gudrun Kemsa eine Übereinstimmung. Die Fotografierten befinden sich zu einer bestimmten Zeit am selben Ort und handeln. Allerdings lässt sich in diesen Fotografien kein Drama in fünf Akten nachvollziehen, eher ist das Ephemere der Grundtenor. Insofern ist vom Begriff der Erzählung im klassischen Sinne abzusehen, eher haben wir es hier zu tun mit einer unverbindlichen Erzählung. Das Foto bringt Menschen zusammen, die in diesem Moment Teil einer Erzählung sein könnten. Jeder Figur ist eine bestimmte Rolle im Moment des Auslösens zugeignet. Es gibt stehende Menschen, schreitende, wartende, lesende etc. Alle sind auf einem Bild, jedoch wird nicht über sie alle erzählt, sie sind lediglich dargestellt. 

 

Alle Dargestellten nehmen Teil an einer Welt, die sich dem äußeren Schein widmet. Hierzu gehören einerseits die phantastischen Geschäfte auf der Renommiermeile: 5th Avenue wie auch die grandiose Architektur, die wir auch in Paris (La Defense), in Berlin, London oder Dubai wiederfinden. An allen Orten begab sich Gudrun Kemsa und hat sich atmosphärisch eingefunden. An keinem der Orte, schon gar nicht in Venice Beach oder Al Merraija (Dubai), nahm Gudrun Kemsa eine Situation bei regnerischem Wetter auf. Regen gehört nicht zum Konzept dieser Fotografie. Bei Regen agieren die Menschen bisweilen hektisch und sind – vor allem in Industrienationen – eher ungehalten. Die Souveränität der Bewegung ist eingeschränkt; jene Freiheit, die Gudrun Kemsa bei ihren Akteuren einfängt, ist dann nicht mehr gegeben. Ein eindringliches Beispiel für ein uneingeschränktes Handlungsspiel begegnet uns in der Aufnahme: Fifth Avenue 3, 2009.  Ganz rechts im Bild lehnt an der Wand eines Hochhauses ein Afroamerikaner mit einer Einkaufstüte und sonnt sich für einen Moment. Seinen Schatten links sehen wir in einer geradezu fantastischen Ausdehnung, die sich über dem von ihm besetzten Architekturabschnitt erstreckt. Weitergeführt wird dieser Schatten von der links an diesem jungen Mann vorbeigegangenen Dame im hellen Mantel. Von ihrem linken Fuß aus nehmen wir einen langgezogenen Schatten auf dem Bürgersteig wahr, der auch ihre Gehrichtung markiert und in Richtung des Ladeneigangs führt. 

 

Diese – hier herausgehobenen – präzisen Beobachtungen verdeutlichen einmal mehr dass Kunstwollen von Gudrun Kemsa. Es ist der schöne Schein dieser Welt Manhattens, symbolisiert durch die prächtige 5th Avenue, die immer wieder herausgehoben wird. In diese sehr aufgeräumte Welt passen keine Schmutzgegenstände, die von der Fotografin konsequenterweise wegretuschiert werden. Der schöne Schein existiert in deutlicher Gegenwart. Das Wort Schein leitet sich bekanntlich vom mittelhochdeutschen schîn ab, wobei wir heute diesen Begriff mit: Glanz oder auch Lichterscheinung übersetzen. Diese Erscheinungen des Lichtes, in Kooperation mit der machtvollen Geometrie von Architekturgebäuden und dem Bewegungsimpuls der Agierenden gehören zum Alphabet der Künstlerin, die uns das urbane Leben in den Metropolen auf spezifische Weise nahebringt. Sie ist die Regisseurin, die uns eine Wirklichkeit nach ihrer Vorstellung präsentiert. Gebäude, vorbeigehende Menschen etc. existieren ohne Zweifel, das Zusammenspiel aller bildet die Synthese dieser Kunst. Der schöne Schein ist das Gegenstück zur begrifflichen Realität bzw. zur Wahrheit. Selbstverständlich übt der schöne Schein eine ungemeine Faszination auf die Menschen aus. Ohne ihn gäbe es vermutlich keine Kunst, zumal keine im westlichen Sinne. Durch das 20. Jahrhundert hindurch wurde das Schöne immer wieder durch Hässlichkeit oder Zerstörung gebrochen. Auch in unserer Gegenwart steht Ästhetik, einst eine profunde Beschäftigung mit der Bedingung des Schönen, unter Generalverdacht. Das Schöne ist im Allgemeinen kein Leitmotiv des Schaffens mehr. Gudrun Kemsa kehrt diese Verdrehung mit der ihr eigenen Bildsprache um. Ihre Augenblicksrealität fasziniert. 

 

 

in: New York New York - Gudrun Kemsa, Kerber Verlag, Bielefeld 2020